„Kultur frisst Strategie zum Frühstück“
Dieser überzeugend daherkommende Spruch – der vermutlich nicht von Peter Drucker stammt – suggeriert mit rhetorischer Simplizität und Überzeugungskraft eine eindeutige Trennung zwischen zwei klar greifbaren Aspekten organisationalen Lebens. Doch weder sind Kultur und Strategie leicht erfassbare „Dinge“ noch stehen sie sich (oppositionell) gegenüber.
ORGANISATIONSENTWICKLUNGFELDTHEORIEKRAFTFELD
DL
12/10/20254 min read
Vereinfacht gesagt: Kultur bietet Raum und Nährboden für strategische Entwicklung und Entscheidungen. Ebenso hat sich die Unternehmenskultur entlang strategischer Entscheidungen und ihrer Wirkung in der Praxis entwickelt.
Welche Aspekte sollten wir also betrachten, wenn wir über Strategie und Kultur sprechen?
Feld
Es sind weder (oft oberflächliche) formal formulierte Pläne oder Leitbilder noch „die“ Kultur, die Strategie – individuelle Strategie täglicher Praxis ebenso wie die von Teams und ganzen Organisationen – zum Leben erwecken oder scheitern lassen. Strategie entsteht und wirkt in einem komplexen Feld relationaler Verknüpfungen. Das soziale Feld beschreibt sich als „geschaffene Muster des Denkens und Handelns; sozusagen die äußeren materiellen, kulturellen und sozialen Existenzbedingungen – als Erwartungen an die Individuen gerichtet“ (Matys 2023, S. 54). Das organisationale Feld, so kann man sagen, ist „die Summe aller Macht- und Ungleichheitsbeziehungen“ (ebd. 54), die sich aus der Menge der verfügbaren (und als legitim anerkannten) Kapitalien (kulturelles, ökonomisches, soziales und symbolisches Kapital nach Bourdieu) sowie deren Verteilung ergeben. In dem Feld setzen Akteure ihre Ressourcen ein, um „Profite“ zu erspielen und ihre Position zu wahren oder zu verbessern. Diese Felder legen also gewisse Handlungen und gewisse Praktiken nahe, ohne sie zu determinieren. Jede Organisation ist zudem selbst Akteur in einem (oder mehreren) sozialen Feld (z.B. ein bestimmter Markt) mit Regeln, Machtverhältnissen, Kapitalvolumen und -verteilung und kulturellen Erwartungen. Mehr zum Thema „Organisationen als Felder“ siehe hier.
Habitus
Weiterhin spielt der Habitus der relevanten Akteure (z.B. Mitarbeitende, Führungskräfte) eine Rolle. Dabei handelt es sich um ein verinnerlichtes und verkörpertes Dispositionssystem von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, das durch Sozialisation, Erfahrung, alltägliche Praxis und die Auseinandersetzung damit entsteht, sich so verfestigt aber auch langsam ändern kann. Dieser hat einen Einfluss darauf, welche strategischen Ausrichtungen überhaupt in Frage kommen (z.B. mit Blick auf Führungskräfte und ihren fachlichen oder beruflichen Habitus) und welche als akzeptabel und legitim angenommen werden können (z.B. von Mitarbeitenden) – und das in aller Regel unbewusst. Der Habitus legt gewisse Handlungsweisen und (individuelle) Strategien nahe, die mehr oder wenig im Einklang mit den Anforderungen und Bedingungen des Feldes sein können. Je nach der Intensität und Wirkung der Feldkräfte können sich die Akteure mit ihrem Habitus „bequem“ in das Feld integrieren, passen die Akteure ihre Praxis und Habitus (meist unbewusst) nach und nach an, sie verlassen das Feld wieder oder bleiben in ihrem Habitus stabil und bewirken Veränderungen im Feld (wenn sie genügend Macht- und Einfluss ausüben können).
Der Habitus erklärt nicht nur die Form praktischer Präferenzen, sondern auch, warum Akteure überhaupt investieren: Er umfasst die Illusio, also das leiblich verankerte Einverständnis, dass es sich lohnt, in einem Feld mitzuspielen und dessen Erträge und Einsätze ernst zu nehmen. Dieses „Gefühl für das Spiel“ (feel for the game) ist die praktisch-zeitliche Antizipationsfähigkeit, in Situationen im Augenblick das Feldgemäße zu tun – ohne abwägende Berechnung, aber hochgradig rational im Sinne des Feldes.
Praxis
Organisationale Praxis ist das habitualisierte, feldspezifisch strukturierte Alltagsgeschehen einer Organisation – das, was faktisch getan wird, um im sozialen Feld der Organisation zu bestehen, zu handeln und Wirkung zu entfalten – und zwar so und nicht anders. Die tägliche Praxis und organisationale Routinen entstehen und verfestigen sich stets entlang eines Wechselspiels aus den sozialen Strukturen (Feld: Machtverhältnisse, Kapitalausstattung, formale wie informale Regeln und Erwartungen etc.) und den Handlungen der Akteure (Habitus). Durch Wiederholung und (hinreichende) Funktionalität (praktisch, symbolisch, emotional etc.) wird einzelnes Handeln zur Praktik und es entstehen Routinen. Diese tägliche Praxis (das Geflecht aus Praktiken und organisationalen Routinen) sind das, was Organisationen zum Leben erweckt und sie am Leben hält, mit der Tendenz, das Bestehende zu reproduzieren. Da sie aber nicht jeden konkreten Handgriff vorgeben – wie Prozessbeschreibungen und Workflows es gerne tun –, sondern die grundlegende, reale Art und Weise, wie etwas getan wird, sind, lassen sie Spielraum für Veränderungen.
Für jedwede strategische Entwicklung und Veränderung in der Organisation muss stets das Wechselspiel zwischen Feld, Habitus und Praxis betrachtet werden. Bourdieu (1982, S. 175) bringt es auf die folgende Formel: (Habitus × Kapital) + Feld = Praxis
Wie können wir Kultur definieren?
Unternehmenskultur ist das historisch gewachsene, kollektiv geteilte System von Praktiken, Routinen, Denkweisen, Erwartungen und symbolischen Ordnungen, das innerhalb eines organisationalen Feldes die Möglichkeiten strategischen Handelns strukturiert und gleichzeitig durch strategisches Handeln strukturiert wird.
Und was ist nun Strategie?
Organisationale Strategie ist die historisch gewachsene kollektive, (in großen Teilen) habitualisierte Ausrichtung von Entscheidungen, Ressourcen und Praktiken einer Organisation innerhalb eines spezifischen Feldes (z.B. Markt, Branche), mit dem Ziel, ihre Position zu behaupten oder zu verbessern, Kapital zu akkumulieren oder umzuwandeln und sich Legitimität zu sichern – unter den Bedingungen der Habitus der Akteure und der Machtverhältnisse (Kapitalvolumen und -verteilung) in der Organisation. Strategisches Handeln, ob unbewusst in den täglichen Praktiken und Routinen oder dem unter Deckmantel eines gut durchdachten, „rationalen“ Plans, ist stets an der eigenen Position im Feld orientiert und durch den Habitus beeinflusst.
Abschließende Gedanken
Wenn wir also über Kultur reden, reden wir damit auch immer über (implizite) Strategien, die organisationale Entscheidungen lenken. Wenn wir formale Strategien verabschieden und sie wirksam sein sollen – und da ist die Herausforderung – dürfen wir das in diesem Beitrag angeschnittene komplexe Zusammenspiel nicht vergessen und unterschätzen.
Wenn wir als Entscheider in Organisationen also Veränderungen in der aktuellen Strategie vornehmen wollen, ist es essenziell, die eigene Organisation (insbesondere Feldstrukturen, Habitus, Praxis und Routinen – und damit eben auch die Kultur, bisherige Strategien auch die formal-kodifizierten Strukturen/Prozesse) gut zu kennen, um den passenden Ansatz zu finden. Sowohl, welche Strategie überhaupt in Frage kommt, als auch was die methodische Umsetzung angeht.
Fazit: Kultur ist auch Strategie. Strategie ist auch Kultur. Hier frühstückt keiner! Oder vermutlich sitzen sie zusammen am Frühstückstisch und schmieden Pläne, wie sie Managern und Führungskräften das Leben schwer machen können.
Zum Schluss noch eine Übersicht über weiterführende Literatur, an der sich dieser Beitrag orientiert.
Armbruster, André. 2023. Gesellschaft als Kraft, Spiel und Kampf. In Handbuch Theorien der Soziologie, 1–23. Springer VS, Wiesbaden.
Bourdieu, Pierre. 1982. Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bourdieu, Pierre. 1990. The Logic of Practice. Stanford: Stanford University Press.
Bourdieu, Pierre. 2005. The Social Strucktures of he Economy. Cambridge: Polity Press.
Feldman, Martha S., und Brian T. Pentland. 2003. Reconceptualizing Organizational Routines as a Source of Flexibility and Change. Administrative Science Quarterly 48: 94–118.
Houben, Daniel. 2022. Die verborgenen Mechanismen der Governance. Wiesbaden: Springer.
Krämer, Hannes. 2019. Organisationsforschung und Praxistheorie (Pierre Bourdieu und Ethnomethodologie). In Handbuch Organisationssoziologie, Springer Reference Sozialwissenschaften, Hrsg. Maja Apelt et al., 1–19. Wiesbaden: Springer Fachmedien.
Matys, Thomas. 2023. Organisation und Macht. Soziologische Perspektiven. In Organisationale Machtbeziehungen im Wandel. Führung zwischen Zustimmung und Zwang, Hrsg. Olaf Germanis, Stefan Hutmacher und Lukas Walser, 47–63. Wiesbaden: Springer Gabler.
Miebach, Bernhard. 2022. Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung. 5. Auflage. Wiesbaden: Springer.


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